Blog: „Warum lügen wir?
ein Text von Joana Glaum

Viele Menschen lügen regelmäßig sich selbst und andere an, ohne dass sie sich manchmal dessen bewusst sind. Ich meine damit nicht mal die „großen“ Lügen, sondern mehr die kleinen, eher subtileren Sätze, die wir Tag für Tag denken oder aussprechen und bei denen uns auf den ersten Blick oft nicht mal auffällt, dass es sich um Lügen handelt. Die meisten Menschen tun dies also nicht mit einer bösen Absicht, sondern aus einer Angst heraus.
Um es besser greifbar zu machen, hier ein echtes Beispiel aus meinem Leben:
Ich bin bei einer Freundin und es gibt köstliche Brownies. Auf die Nachfrage, ob ich gerne einen mit nach Hause nehmen möchte, huscht direkt ein sehr unbewusstes, automatisches „nein, danke“ über meine Lippen. Erst später merke ich, dass ich gerne einen mitgenommen hätte – dabei fühle ich ein Zusammenziehen und auch eine gewisse Scham, dass es mir nicht möglich war, das auszusprechen! Zu sehr bin ich es gewohnt, wie automatisiert, bescheiden zu sein. Es ist sehr typisch für mich gewesen, genau so zu antworten – typisch für mein Sonnenzeichen im Steinbock und für mein nach Bescheidenheit konditioniertes Ich.
Genau genommen habe ich gelogen. Dabei gehe ich davon aus, dass meine Freundin ihre Frage ehrlich gemeint hat und mir sehr gerne einen mitgegeben hätte und sich wohl möglich sogar darüber gefreut hätte, wenn ich ihr Angebot angenommen hätte.
Natürlich hat diese Beispiel keine gravierenden Folgen. Vermutlich würden wir beide laut lachen, wenn ich ihr davon erzähle. Doch fängt es nicht oft genau bei den Kleinigkeiten an? Fataler wird es natürlich, wenn es um Situationen geht, die weit größere Auswirkungen haben als dieses Beispiel:
- Wenn eine Partnerschaft zu Grunde geht, weil man sich nicht traut, dem Partner ehrlich und offen seine Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse mitzuteilen.
- Wenn man sich gewisse Freundschaften immer wieder schönredet und aus Angst, sonst alleine zu sein, darin bleibt, obwohl man fühlt, dass man sich einfach auseinandergelebt und sich nicht mehr viel zu sagen hat.
- Wenn man im Burnout landet, weil man trotz Erschöpfung immer wieder Überstunden macht, anstatt zu sagen, dass die Last zu groß ist und es eine Lösung braucht.
Jedes einzelne Wort trägt eine Energie in sich und genauso auch jede einzelne Lüge, die sich über meine Lippen oder über mein Verhalten ausdrückt. Vielleicht kennst du dieses enge, einzäunende und drückende Gefühl, das eine Nicht-Wahrheit mit sich bringt. Unser Leben wird langfristig leichter, wenn wir uns echt und natürlich zeigen, und wir ehrlich unsere Wünsche und Bedürfnisse kommunizieren – „ja, ich würde gerne einen Brownie mitnehmen“ oder „ich fühle mich erschöpft und kann die fast täglichen Überstunden nicht länger leisten“.
Und gleichzeitig wissen wir, dass das manchmal gar nicht so einfach ist. Es gibt Situationen, in denen wir uns immer wieder vornehmen, unsere Wahrheit zu sprechen und dann gelingt es uns doch nicht. Das, was im Anschluss zurück bleibt, ist oft die Selbstverurteilung und ein dumpfes Gefühl. Und dann nehmen wir es uns für das nächste Mal wieder vor und WIEDER klappt es oftmals nicht…
Warum fällt uns das so schwer?
Viele Menschen haben als Kind gelernt, dass es nicht sicher ist, die eigene Wahrheit zu sprechen. Als Baby und kleines Kind waren wir auf unsere Eltern angewiesen. Nicht jeder ist so aufgewachsen, dass es von den Eltern unterstützt wurde, die eigenen Bedürfnisse / Wünsche / Gefühle (=eigene Wahrheit) mitzuteilen.
In manchen Familien drohte Liebesentzug, Ausgrenzung, Spott, Abwertung oder ähnliches. In so einem Fall hat ein Teil in uns zum Beispiel gelernt, dass es sicher ist, bescheiden, hilfsbereit und höflich zu sein. Die Folge davon? Überanpassung, Selbstverlust.

Oft hängen wir als Erwachsene noch in diesem Muster drin. Was einst als Überlebensmuster diente, engt uns heute ein und kann uns davon abhalten, uns frei zu äußern und zu bewegen.
Versteh mich bitte nicht falsch, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Höflichkeit sind wichtige Tugenden – doch mein echter, authentischer Selbstausdruck ist sicher nicht in jedem Moment bescheiden, hilfsbereit oder höflich zu sein, oder?
Der Weg hinaus?

Manchmal kann es im ersten Schritt erst einmal darum gehen, sich selbst überhaupt wieder wahrzunehmen und somit auch seine Bedürfnisse und seine Wahrheit zu fühlen. Falls das auf dich zutrifft, dann magst du vielleicht Situationen in deinem Leben erleben, wo du nicht klar fühlst „oh, das will ich eigentlich gerade gar nicht“ – stattdessen bleibt oft bloß ein komisches und unstimmiges Gefühl, welches sich nicht immer sofort zuordnen lässt, im Nachgang zurück.
Wie bereits geschrieben geht es hier darum, erst mal ehrlich zu sich selbst zu sein, seine Gefühle und Wahrheiten für sich wahrzunehmen. Und erst im nächsten Schritt zu lernen, diese zu kommunizieren. In der Praxis kann das so aussehen, dass man sich im Alltag immer mal wieder stille Momente der Reflexion nimmt. So kann man sich nach einem Treffen mit einem Freund hinsetzen und sich folgende Fragen stellen:
Wie fühle ich mich nach diesem Treffen? Was hat sich schön angefühlt hat und was war möglicherweise unangenehm? Vielleicht werden einem im Nachhinein – wenn man quasi wieder „in Sicherheit“ ist, Worte bewusst, wo man nicht ganz ehrlich war. In einer Meditation kann man mit den entsprechenden Anteilen in Kontakt kommen. Alles hat immer seinen Grund. Was steckt dahinter? Wovor hat der Anteil Angst? Kann ich ihm dafür Mitgefühl schenken? Kann ich mitfühlend mit mir sein, dass ich nicht ganz ehrlich war?
Vielleicht magst du aber auch an dem Punkt sein, wo du bereits ganz klar deine Wahrheit in dir spürst. In den entsprechenden Momenten diese zu kommunizieren, fällt dir allerdings schwer. Auch hier geht es darum, echtes Mitgefühl für die Anteile zu entwickeln, die sich aus Gründen (Angst vor Ablehnung etc.) nicht trauen, das zu sagen, was eigentlich so sehr auf dem Herzen brennt. Je nachdem in welchem Umfeld wir leben, dürfen wir, wenn wir uns immer mehr trauen, das zu sagen, was wir eigentlich auf dem Herzen haben, die Erfahrung machen, dass wir NICHT abgelehnt werden. Möglicherweise kommt auf eine Absage die Antwort „kein Problem, dass du absagst – schön, dass du auf dich und deine Bedürfnisse achtest“ zurück.
Aber: Wenn mein Umfeld es von mir gewohnt ist, dass ich zu allem „Ja und Amen“ sage und ich dann langsam anfange, meine Wahrheit zu sprechen, kann das im Außen auch erst einmal Unfrieden auslösen.
Wenn mein Chef es gewohnt ist, dass ich tagtäglich Überstunden mache und ich eines Tages meine Wahrheit spreche („ich kann so nicht weiter machen, ich bin erschöpft, wir brauchen eine Lösung“) kann es natürlich sein, dass er darüber nicht erfreut ist.
In mir können dann erst einmal Gefühle hochkommen… schlechtes Gewissen, Angst,… Doch hier geht es genau darum, diese Gefühle zu fühlen. Da entsteht dann ein neuer, reiner Raum – ein ehrlicher Raum.
Weiter gebe ich meinem Umfeld (und mir selbst) überhaupt erst einmal die Chance, mich ECHT kennenzulernen! Und ich werde immer weniger tun, nur um schlechtes Gewissen und eine wohl möglich aufkommende Angst zu vermeiden.
- Wie sieht ein Leben aus, indem der Beweggrund des Handels nicht die bloße Vermeidung von Angst und schlechtem Gewissen ist?
- Wie glücklich und frei kann sich ein Leben unter diesen Beweggründen anfühlen?
- Wie sehr bin ICH dass dann wirklich?
- Wie fühlt sich ein Leben an, in dem ich selbstbewusst meine Wahrheit spreche und nach ihr handele?
Dein Umfeld hat ein Recht darauf, dein wahres Selbst kennenzulernen – und das gelingt nur, wenn wir ehrlich aussprechen, was uns wirklich bewegt.
